deutsche Version

Sascha Lino Lemke (*1976)

"...comme une berceuse..." (2003)

pour 65 musiciens

Auswahl der Saarbrücker Komponistenwerkstadt

Dauer: ca. 18 Minuten

Besetzung:

Werkkommentar:

In "...comme une berceuse..." pour 65 musiciens, dem Titel nach eine leise Hommage an Gérard Grisey, beschäftige ich mich u.a. mit einer spezifischen harmonischen Welt, den räumlichen Möglichkeiten des Orchesterapparates und dem Deklinieren der elementaren Geste des Wiegens/Atmens.

Der Harmonik großer Teile des Stückes liegt ein Prinzip zugrunde, das dem der FM-Synthese verwandt ist: ausgehend von der Frequenz eines Kontra-B, das selbst meist nicht auftaucht, ergänze ich über und unter der Ausgangsfrequenz eine bestimmte Anzahl von Frequenzen, die immer um den selben Hertz-Betrag voneinander entfernt sind. Indem ich diesen Betrag konstant in sehr langsamem Tempo verändere, erhalte ich Akkordglissandi, die mich sehr faszinieren:

Ich nenne dies in folge der Einfachheit halber "FM-glissandi". Diese Harmonik erscheint gegen Ende (T.261 ff) in ihrer eigentlichen Form als sehr langsames Akkordglissando. In dem vorigen Teil (155 ff) sind für zwei Schichten aus zwei "FM-glissandi" jeweils 31 Akkorde ausgewählt. Wiederum früher (ab T.36) verwende ich Akkorde, in denen ich oberhalb der Grundfrequenz um den gleichen Hertz-Betrag entfernte Frequenzen schichte (die "negativen Seitenbänder" fallen also weg). Im ersten Teil baue ich in den pulsierenden Streicherschichten "falsche" Spektralakkorde, die im Sechzehnteltempo wechseln. So ergibt sich eine allmähliche Hinführung zum eigentlichen harmonischen Grundprinzip. Um die spektralen Akkorde in reiner Stimmung, die als "einfache" Akkorde dieser "FM-glissandi" zwischendurch auftreten und eine gewisse Graviatationskraft ausstrahlen, habe ich ein Concertino mit v.a. sechs umgestimmten Streichern gebildet, die fast nur leere Saiten und Naturflageolets spielen und somit einen Schatz aus relativ sicher erzeugbaren Mikrotönen beisteuern können. Dies ist ein Prinzip, das ich in einer Reihe von Stücken immer wieder erprobt habe.

Außerdem spielt Räumlichkeit eine gewichtige Rolle. Daher ist das Orchester in besonderer Weise in Gruppen geteilt und nach bestimmten Prinzipien aufgestellt. Die Aufstellung kann für jede Aufführung dem Aufführungsort angepaßt werden. Die musikalischen Elemente wandern im Raum, bewegen sich chaotisch oder sind räumlich getrennt plaziert.

Die elementare Geste des Wiegen/Atmens bildet den Ausgangspunkt des Stückes, wie u.a. aus der nun folgenden Kurzbeschreibung der einzelnen Abschnitte hervorgehen wird.


Abschnitt 1 (T. 2 - 35)

Es gibt vier verschiedene Elemente, die sich zu Beginn zu einer Art Ein- und Ausatmen zusammenfügen, dann entwickeln sie sich eigenständig, verschieben sich gegeneinander, treffen sich wieder an dramaturgisch wichtigen Punkten.

  1. allmählich hyperchromatisch aufsteigende, leicht crescendierende Linien: v.a. Flageolets & leere Saiten der Streicher und große Trommeln Aus sehr hohen halbimprovisatorischen Streicherklängen und dem Klang der großen Trommel wachsen allmählich bewegt pulsierende Strukturen von Naturflageolets und leeren Saiten, innerhalb derer sich eine Hauptlinie langsam hyperchromatisch aus der Tiefe in die Mittelage hocharbeitet
  2. Klangimpuls mit "verstimmten" Resonanzen: Trompeten, Oboen, Concertino, Posaunen. Der subtile Ausgangsklang des Flöten-Multiphonics cis"/d" wird zunehmend gespreizt und angereichert, bis er sich in einem zu tiefen A-Dur-Klang mit den Streichern trifft
  3. sich allmählich beschleunigendes Luftwellencrescendo: Trompeten, Hörner, Fagotte D cis"/d"-Klänge mit Decrescendo: Schlagzeug

Abschnitt 2 (T. 36 - 142)

In immerwährend sich variierenden wiegenden Bewegungen "arpeggiert" das Concertino Akkorde, deren einzelne "Töne" im Prinzip um den gleichen Hertz-Betrag von einander entfernt sind. Dadurch gibt es v.a. einen starken Differenzton, der sehr leise von den Contrabässen/Violoncelli/Marimba gespielt wird. Mit der tendeziell immer stärkeren Spreizung des Ambitus der "Arpeggien" bis zum Ende des Abschnittes treten immer mehr Haltetöne hinzu, deren wellenartige Dynamik eine zusätzliche quasi-Filterstruktur ergibt. Unterbrochen wird das Concertino durch Tutti-Intermezzi des Orchesters. Gegen Ende wird das Concertino in einem großen Crescendo vom Orchester "verschlungen".


Abschnitt 3 (T. 143 - 154)

Das Stück scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Die Stille wird von zehn ffff-Schlägen zerschnitten, die jeweils aus einem sehr tiefen und einem sehr hohen Akzent bestehen, eine äußerst reduzierte Reminiszenz des "Wiegens" und zugleich identisch mit den beiden Ebenen, die Ausgangspukt der zwei Schichten des folgenden Abschnitts sein werden. Die Schläge folgen einander immer schneller, die Leere wird zunehmend durch Resonanzen, hinführende Crescendi und Glissandi des Concertinos ausgefüllt. Gerade, wo das Tempo des folgenden Teiles nahe scheint, bleibt eine Solo-Violine auf groteske Weise "hängen" und hält den Fortgang für eine ganze Weile auf, bevor es dann doch weitergeht.


Abschnitt 4 (T.155-260)

Der hohe und der tiefe Akzent der Schläge werden nun Ausgangspunkt für zwei Gruppen, die zunächst hektisch und völlig chaotisch wirken, sich dann aber allmählich über einen langen Prozeß zu einem total regelmäßigen ruhigen Wiegen auf dem selben Akkord zusammenfinden. U.a. laufen folgende Entwicklungen ab: o das Tempo wird allmählich langsamer,

Gleichzeitig ist dieser Prozeß zu Beginn relativ diskontinuierlich und wird erst allmählich kontinuierlich, indem komponierte "Fehler" immer seltener werden. Der Harmonik liegen zwei "FM-glissandi" zugrunde, aus denen ich jeweils 31 Akkorde ausgewählt habe. Besonders gegen Ende spürt man sehr deutlich die Gravitationskraft des Zielklanges wegen der geringen Veränderungen in der Akkordverbindung innerhalb der einzelnen Gruppen und den Schwebungen zwischen den Akkorden der beiden Gruppen.


Abschnitt 5 (T. 261 - Ende)



Der Diskurs der zwei Gruppen kommt auf dem einfachen Spektralklang 3./5./7./9. auf B zum Stillstand. Dieser Klang, der nun zuerst vom Concertino, dann vorsichtig von einigen Streichern übernommen und angereichert wird, wird zum Ausgangspunkt für ein extrem langsames "FM-glissando", das den Hintergrund für den letzten Abschnitt bildet. Dieser Abschnitt basiert auf einem Selbstzitat aus der Kollektivoper "Über Frauen-über Grenzen", das ich weiterausgebaut habe. Über dem sich beinahe unmerklich verschiebenden Klangteppich des "FM-glissandos" entwickeln sich autonom vier Schichten und synchronisieren sich allmählich bis Takt 298. Die Prozesse sind einander recht ähnlich: zwei alterniernden Elemente, ein tonhaftes und ein eher geräuschhaftes, atemähnliches, sind zunächst im Ungleichgewicht, was ihre Dauern angeht, und entwickeln sich allmählich zu einem gleichmäßigen Wiegen; gleichzeitig verlangsamt sich die rhythmische Ausgestaltung.

  1. Flöten: Ton - Luftrauschen
  2. Oboen (Ton) - Trompeten/Fagotte (Luftrauschen)
  3. Schlagzeug (cis"/d") - Tuba/Hörner (Luftrauschen)
  4. Contrabässe/Violoncelli (Flageolet-pizz cis'/d') + Resonanzen - Streicher (Rauschen auf Stegholz)

Alle Schichten treffen sich in Takt 296. Es entsteht ein gemeinsames Orchesterwiegen/-atmen aus jeweils einem Takt Tonhaftem und einem Takt Geräuschhaftem/Atemähnlichem. In dieses Atmen sind Erinnerungen an Vergangenes eingewirkt.

...comme une berceuse...